Experten fordern frühere und umfassendere Holocaust-Aufklärung an Schulen
Ein breites Bündnis aus Schul- und Antisemitismusexperten spricht sich für einen Kurswechsel in der deutschen Holocaust-Aufklärung aus. Derzeit wird die NS-Zeit im Geschichtsunterricht in den meisten deutschen Bundesländern erst in der Oberstufe und damit überwiegend an Gymnasien behandelt.
Frühzeitige und schulformübergreifende Thematisierung gefordert
Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, betonte gegenüber der „Frankfurter Rundschau“, dass die bisherige Thematisierung zu spät und zu kurz greife. Die Auseinandersetzung mit der Schoa müsse frühzeitig, kontinuierlich und schulformübergreifend erfolgen – nicht erst am Ende der Schullaufbahn und nicht nur im Gymnasium. Schuster fordert altersgerechte Lernkonzepte, die auch in der Grundschule eingesetzt werden können.Er verweist darauf, dass es immer weniger Zeitzeugen gebe und sich Falschnachrichten sowie Hetze in sozialen Netzwerken verbreiten.
Unterstützung durch den Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung
Felix Klein, Antisemitismusbeauftragter der bundesregierung, unterstützt die Forderung nach einer früheren Behandlung der NS-zeit im Geschichtsunterricht. Seiner Ansicht nach müsse die Lehre bereits in der Mittelstufe erfolgen. Zudem fordert Klein mehr Geschichtsunterricht, da eine Wochenstunde aus seiner Sicht zu wenig sei. Auch die Integration des faches Geschichte in Mischfächer mit Sozialkunde und Politik sieht er kritisch. In den Lehrplänen müsse zudem festgelegt werden, dass Biografien behandelt werden.
Klein betont, dass das sogenannte Überwältigungsverbot weiterhin gelte: Jungen Schülern schreckliche Bilder zu zeigen, sei nicht zielführend. Es gebe jedoch ausreichend pädagogisch wertvolle Wege,die Erinnerungskultur bereits in der Mittelstufe umfassend im Geschichtsunterricht zu behandeln. In der Oberstufe komme die Aufklärung in vielen Fällen zu spät.
Schülervertretung fordert neue Impulse im Geschichtsunterricht
Auch die Bundesschülerkonferenz fordert Veränderungen im Geschichtsunterricht. Quentin Gärtner, Generalsekretär der Bundesschülerkonferenz, kritisiert, dass der Unterricht zu theoretisch sei. Jahreszahlen und Lehrbuchwissen allein schafften keine Betroffenheit und verhinderten keine Hetze auf dem Pausenhof. Gärtner spricht sich für Pflichtbesuche in Konzentrations- oder Vernichtungslagern aus und unterstützt die Forderung, die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit bereits in der Mittelstufe zu beginnen.
Lehrkräfte und geschichtslehrerverband sehen Handlungsbedarf
Stefan Düll, Präsident des Deutschen Lehrerverbands, bemängelt, dass dem schulfach Geschichte und insbesondere dem themenkomplex Holocaust und NS-Herrschaft zu wenig Zeit eingeräumt werde.Er spricht sich dafür aus, dem fach wieder mehr Raum zu geben. Düll weist darauf hin, dass der Geschichtsunterricht heute nicht mehr auf ein kollektives Wissen zurückgreifen könne. Für jüngere Lehrkräfte sei die Nachkriegsgeschichte oft relevanter, da sie keine Eltern mehr hätten, die das Dritte Reich erlebt haben. Demokratiebildung müsse auch zeigen, was nach der NS-Diktatur war und welche Errungenschaften die Bundesrepublik erreicht habe.
Niko Lamprecht, Bundesvorsitzender des Verbands der Geschichtslehrer Deutschlands, betont, dass Ereignisse mit 80 Jahren Abstand für viele Jugendliche ähnlich fern wirkten wie die Antike. Der Holocaust sei jedoch ein inhaltlicher Schwerpunkt und dürfe keine Randnotiz im Unterricht sein.